Heute ist morgen schon gestern, oder anders gesagt: Was heute noch als ultimative Neuheit daherkommt, hat morgen vielleicht schon wieder ausgedient. Wenn sich Unternehmen ohne klare Ausrichtung auf dieses unsichere Terrain begeben, verlieren sie schnell die Orientierung und werden zu Opfern äußerere Einflüsse. Aus diesem Grund ist es essenziell, dass sie sich stabil undwirkungsvollaufdieZukunftausrichten.Dreh- und Angelpunkt hierbei sind die Führungskräfte. Aber beginnen wir zunächst mit den unausweichlichen Gegebenheiten, die sich derzeit auf dem Arbeitsmarkt zeigen und von der Führung große Aufmerksamkeit verlangen. Denn: Die Führungsmethoden von gestern haben ausgedient …
Den Status quo in vielen Unternehmen bringt Knut Bleicher (1929–2017) – deutscher Wirtschaftswissenschaftler und u.a. Leiter der St. Galler Business School – sehr treffend auf den Punkt: „Wir arbeiten in Strukturen von gestern mit Methoden von heute an Problemen von morgen vorwiegend mit Menschen, die die Strukturen von gestern gebaut haben und das Morgen innerhalb der Organisation nicht mehr erleben werden.“
Das zeigt deutlich, dass mit Führungsmodellen, die vornehmlich noch aus den 1990er-Jahren stammen, heute nichts mehr erreicht wird. Schlimmer noch: Sie wirken sich sogar schädlich auf Unternehmen und Mitarbeitende aus, was der Fachkräftemangel schonungslos offenlegt.
Führung und HR als Brückenbauer gefragt
Der Fachkräftemangel sorgt für jede Menge Diskussionen und die Meinungen gehen hier weit auseinander. Wir wollen darauf jetzt nicht näher eingehen, sondern uns vielmehr mit der Frage beschäftigen, warum gerade mittelständische Unternehmen große Probleme haben, Fachkräfte zu finden, denn laut dem aktuellen Gallup Engagement Index haben drei von vier Unternehmen (73 %) derzeit Fachkräfteengpässe – und ihre Anzahl steigt kontinuierlich. Von Jahr zu Jahr werden es mehr Unternehmen, die über weniger Fachkräfteverfügen als benötigt.
Das liegt auch an den veralteten Führungsmodellen, denn noch heute herrscht vielerorts das Motto: „Ich bin der Chef und meine Mitarbeitenden müssen tun, was ich sage!“ Gerade die Generation Z ist nicht mehr bereit, sich darauf einzulassen, und steckt inzwischen die anderen Generationen mit ihrer Meinung an. Zunehmend prallen zwei Welten aufeinander, und es kommt zu vielen Missverständnissen auf beiden Seiten. Damit Unternehmen hoch motivierte Mitarbeitende bekommen, braucht es vor allem Brückenbauer, die beide Seiten zusammenbringen. Diese Rolle wird vornehmlich HR und den Führungskräften zuteil.
Wie dringlich der Bedarf dafür ist, zeigt auch wieder der Blick auf den jährlichen Gallup Engagement Index, der erschreckende Zahlen zutage fördert. Die emotionale Bindung der Mitarbeitenden an ihre Unternehmen war 2022 erneut auf einem Tiefstand. Die Konsequenz: Wer jetzt nicht handelt, wird früher oder später gezwungen sein, Positionen mit Menschen zu besetzen, die weder qualifiziert, noch gewillt sind, das Unternehmen voranzubringen – und wie das ausgeht, können wir uns alle denken.
Die Ansprüche der Mitarbeitenden haben sich verändert und sie sind sich sehr wohl bewusst, dass sie in einer Zeit leben, in welcher der Wandel allgegenwärtig ist. Viele mittelständische Unternehmen versuchen, sich damit herauszureden, dass sie nicht mit den Benefits und Gehältern der großen Unternehmen mithalten können. Wer jedoch nur einmal genauer hinsieht, stellt fest, dass es gar nicht immer ums Geld geht. Die Mitarbeitenden wünschen sich vor allem Wertschätzung, Ehrlichkeit und Transparenz in der Kommunikation, Gestaltungsmöglichkeiten und Flexibilität sowie individuelle und professionelle Weiterbildungen. Sie möchten den Wandel mitgestalten, sich einbringen und neue Ideen durchsetzen.
Die Rahmenbedingungen und der Umgang im Unternehmen spielen somit oft eine viel größere Rolle als die Zahl auf dem Gehaltszettel oder der Firmenwagen in der Garage. Wer zukunftsfähig sein will und sich als attraktiver Arbeitgeber etablieren möchten, muss nicht nur die erlebte Führung auf den Prüfstand stellen, sondern auch aktiv an deren Qualität und Umsetzung im Arbeitsalltag arbeiten. Führungskräfte spielen jedoch nicht nur eine zentrale Rolle bei der Schaffung eines leistungsfördernden Umfelds, sondern auch, wenn es um das allgemeine Wohlbefinden ihrer Mitarbeitenden geht. Was das bedeutet, zeigte sich vor allem während der Corona-Pandemie unmissverständlich.
Balance statt Extrem
Nicht alles an Corona war schlecht. Zumindest was New Work angeht. Denn plötzlich klappte etwas, wovon jeder Chef sagte, dass es nie funktionieren würde – Homeoffice. Und es lief super. Die Zahlen sprechen Bände. Jetzt wird allerdings wieder zurückgerudert. Die Großen machen es vor: Zoom, SAP, Google, Disney, Amazon und viele andere holen ihre Angestellten wieder für zwei, drei Tage ins Büro. Wer sich nicht daran hält, bekommt eine schlechte Leistungsbeurteilung oder wird gekündigt. Kein Scherz, Google ist da sehr konsequent. „Es steht außer Frage, dass die Zusammenarbeit im selben Raum einen positiven Unterschied macht“, sagt Google-Personalchefin Fiona Cicconi.
Einer Entwicklung, der hier entgegengewirkt werden soll, beschreibt der Begriff „Entgrenzungseffekt“. Im Dezember 2020 führte das Fraunhofer IAO mit der Deutschen Gesellschaft für Personalführung (DGFP) eine Umfrage unter der Überschrift „Arbeiten in der Corona-Pandemie“ durch. Befragt wurden 180 HR- und Unternehmensverantwortliche. Darin bestätigt sich, was bereits im AOK-Fehlzeitenreport 2020 bekannt wurde: Eine Entgrenzung zwischen Arbeit und Privatem kann zu gesundheitlichen Einschränkungen durch ein gesteigertes Stresslevel und mangelnde Erholung führen. Zudem kann eine Vereinsamung der Menschen drohen.
Die Betonung liegt hier vor allem auf dem „kann“. Es mag Mit- arbeitende geben, die ihr Umfeld im Büro brauchen, doch genauso gut gibt es jene, die leistungsfähiger und zufriedener sind, wenn sie nur von zu Hause aus arbeiten. Die Persönlichkeit, private Umstände, Aufgaben und vieles mehr sind ausschlaggebend für die Performance der Mitarbeitenden. Extreme, in die eine oder andere Richtung, sind hier keine Lösung! Vielmehr gilt es, die richtige Balance zu finden, die es allen Mitarbeitenden ermöglicht, Bestleistungen abzurufen. Dies allerdings verlangt von den Führungskräften erweiterte Kompetenzen, insbesondere im kommunikativen und sozialen Bereich. Werden diese Faktoren gestärkt, verbessert sich nicht nur die Führungsqualität an sich, sondern es gelingt auch, ein Umfeld und Rahmenbedingungen zu schaffen, in denen jeder Mitarbeitende bestmöglich performen kann.
Die Frage nach der optimalen Arbeitsumgebung und Führung ist also komplex und individuell. Doch während wir uns bemühen, diese Fragen für menschliche Mitarbeitende zu beantworten, gibt es Unternehmen, die einen ganz anderen Weg gehen. Sie setzen auf Technologie und künstliche Intelligenz (KI), um ihre Führungsebene zu besetzen. Ein Beispiel dafür ist der chinesische Softwaregigant NetDragon mit Sitz in Hongkong.
CEO aus Codes – die Zukunft?
NetDragon beschäftigt seit August 2022 Tang Yu als CEO – eine künstliche Intelligenz. Sie arbeitet 24 Stunden, braucht keinen Urlaub, wird nicht krank, bekommt kein Kind, Burn-out existiert nicht, sie erhält kein Gehalt, brachte dem Unternehmen jedoch ein sattes Aktienplus von 18,2 Prozent. Mein Chef, die Maschine. Wie realistisch ist das?
Wir sind mitten in der KI-Revolution. Manchmal ist uns selbst noch gar nicht bewusst, was das bedeutet. Künstliche Intelligenz ist Fluch und Segen zugleich: Während sie auf der einen Seite die Arbeit erleichtert, schürt sie auf die anderen Ängste und Unsicherheit bei vielen Mitarbeitenden – und jetzt vielleicht auch bei Führungskräften. Ob eine KI einen CEO ersetzt, steht noch in den Sternen, denn ein „künstlicher“ Chef ist, zumindest Stand heute, weit davon entfernt, ebenso empathisch oder wertschätzend wie ein Mensch zu sein.
Im Gegenzug bedeutet das, dass insbesondere Führungskräfte genau an diesen Fähigkeiten arbeiten müssen. Neben den grundsätzlichen Werkzeugen, wie agiles Führen, Zeitmanagement , Selbstführung , Prioritäten setzen usw., die jede Führungskraft beherrschen sollte, ist es von höchster Relevanz, „menschliche“ Kompetenzen zu fördern, die Stabilität und Resilienz für die Mitarbeitenden und die Organisation generieren. Dies gelingt allerdings nur, wenn neue Führungsmodelle gelebt werden.
Es wird Zeit, sich von altem Ballast zu befreien und nach vorn zu gehen
Die Zeiten von Sachbuch-Führungsmethoden aus den 80er- und 90er-Jahren des letzten Jahrhunderts sind genau das – aus dem letzten Jahrhundert. Da gab es völlig andere Rahmenbedingungen und Herausforderungen und für diese hatten die Führungsinstrumente ihre Berechtigung. Aber heute braucht es andere und das wird leider oft nicht verstanden.
Der erste Schritt hin zu einer zeitgemäßen und zukunftsorientierten Führung ist, zu verstehen, was die Menschen im Unternehmen und andere Stakeholder heute brauchen. Die vier folgenden Haltungen in Sachen Führung sind ein Indikator dafür:
1. Transparenz
Um als Führungskraft das Vertrauen des Teams zu gewinnen, vor allem aber, um es zu behalten, ist Transparenz entscheidend. Absichten müssen daher grundsätzlich transparent und erlebbar sein. Es gilt zum einen, Gründe für Entscheidungen klar und eindeutig zu kommunizieren und andererseits Ankündigungen und Versprechen umzusetzen.
2. Konsequenz
Es geht darum, a) ehrlich zu sagen, was man denkt, und b) zu tun, was man sagt. Ganz geradlinig. Inkonsequentes Verhalten führt zu Verunsicherung und Vertrauensverlust. Mitarbeitende vertrauen Menschen, die konsequent in ihrem Handeln sind und die Verantwortung für ihr eigenes Handeln übernehmen.
3. Verlässlichkeit
Heute eine Richtung und morgen eine ganz andere – dieses Verhalten sorgt für große Verunsicherung. Mitarbeitende müssen sich auf ihre Führungskräfte verlassen können. Vorgesetzte, die sagen, was sie tun und vor allem tun, was sie sagen, werden in ihrem Umfeld Vertrauen bilden. Auch die unmissverständliche Äußerung der eigenen Erwartungen, das Verfolgen einer klaren, stationsunabhängigen Linie sowie das Einhalten von Abmachungen sind eine unabdingbare Voraussetzung für eine verlässliche Verbindlichkeit.
4. Respekt
Respekt bedeutet, ich bin bereit, meine Mitarbeitenden mit ihren Bedürfnissen und ihrer Individualität zu sehen – jeden Einzelnen! Das ist das eine. Es gibt aber auch den Respekt für die Sache. Es ist der Respekt vor der Größe der Aufgabe, der Herausforderung, den avisierten Zielen, dem gewünschten Erfolg.
Fazit: Führungskräfte, die diese vier Punkte beachten, legen den Grundstein dafür, ihre Kompetenzen dahin gehend auszubauen. Das bedarf selbstverständlich auch gewisser Veränderungsprozesse.
Leadership authentisch leben
Robert Dilts (Mitbegründer von NLP) zeigt in seiner Pyramide prägnant auf, welche sechs logischen Ebenen helfen, Veränderungsprozesse zu durchlaufen. Dabei wirken die Ebenen von oben nach unten.
Die Spitze der Pyramide bzw. die erste Ebene sind „Ziel & Sinn“
Die Studie „Purpose, die große Unbekannte“, die Kienbaum in Kooperation mit Human Unlimited im deutschsprachigen Raum durchführte, zeigt, wie wichtig ein klar formulierter, starker Purpose für Unternehmen ist. 93 Prozent der Befragten erachten es als wichtig, dass Unternehmen für sich eine
„Daseinsberechtigung“ definieren. Im scharfen Kontrast dazu steht, dass sechs von zehn Befragten den Purpose ihrer Organisation nicht wiedergeben können. Sie sehen – als Leader ist da dringender Handlungsbedarf!
Die zweite Ebene ist das Thema „Identität“
Menschen brauchen Menschen, Menschen vertrauen Menschen und gehen nur dann durch dick und dünn miteinander. Authentizität spielt eine zentrale Rolle, wenn es um wahre Identität geht. Nur jene, die bereit sind, ihre individuellen Ecken und Kanten sowie Macken offen und ehrlich zu zeigen, werden als authentisch betrachtet. Täuschungen jedoch stellen eine ernsthafte Bedrohung für das reibungslose Funktionieren einer Organisation dar. Wahre Führungspersönlichkeiten zeichnen sich stets durch die Offenlegung ihrer wahren Identität aus, ohne dabei Kompromisse einzugehen.
Ebene drei sind „Werte & Glaubenssätze“
Unternehmenswerte sind kein Modewort, keine Schikane, sondern der Kitt, der das Unternehmen zusammenhält und nach vorn führt. Setzen Sie sich hin und erarbeiten Sie Ihre Werte gemeinsam – und leben Sie diese dann. Nichts macht resilienter gegen die nächsten Stürme als der Zusammenhalt gemeinsamer gelebter Werte, verankert in einem Unternehmensleitbild.
Die weiteren Ebenen der Pyramide
Darunter folgen dann die Ebenen vier, fünf und sechs der Pyramide: Fähigkeiten, Verhalten und Umfeld.
An der Spitze der Pyramide ansetzen
Besonders im Unternehmens- und Führungskontext ist es wirkungsvoll, an der Spitze der Pyramide anzusetzen. Wenn der Sinn, der Purpose, erkannt wird, wird das Gelernte umgesetzt und setzt sich über alle Ebenen nach unten fort, bis zur Umgestaltung des Umfelds. Für Führungskräfte bedeutet dies: Durch eine Vision, ein gemeinsames Leitbild, werden alle Beteiligten auf der Sinn-Ebene vereint. Daraus entsteht eine Wir-Kultur im Unternehmen, die Identität erzeugt und für emotionale Bindung sorgt. Das Etablieren der gemeinsamen Werte sorgt für ein Umfeld, in dem passende Mitarbeitende sie selbst sein können und ihre Stärken einbringen. Das wiederum strahlt nach außen, fördert die Resilienz und eröffnet Raum für Innovation.
Solide Führungskompetenz oder orientierungs- lose Kurzzeitlösungen?
Fakt ist, dass Führungskräfte in allen Bereichen – ob Fachkräftemangel, New Work oder Innovation, z. B. im Bereich KI – eine Schlüsselfunktion einnehmen. Letztlich entscheiden sie, ob sich das Unternehmen solide zukunftsorientiert aufstellt oder weiter orientierungslos nach Kurzzeitlösungen sucht. Sie sind verantwortlich für das Erreichen von Zielen, die Entwicklung und Umsetzung von Strategien, die Mitarbeiterbindung, die Förderung einer ositiven Unternehmenskultur. In dem rasanten Wandel, in dem heute morgen schon gestern ist, ist es essenziell, dass Führungskräfte ihre Fähigkeiten und Kompetenzen ständig weiterentwickeln, um erfolgreich zu bleiben und sich den künftigen Herausforderungen zu stellen.
Ein Beitrag von Ingolf Op den Berg und Ben Schulz
Quelle: HR Performance 4/2023, www.hrperformance-online.de
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